- Theben: Zwischen Leben und Ewigkeit - Die thebanische Gräberwelt
- Theben: Zwischen Leben und Ewigkeit - Die thebanische GräberweltVielfalt in der Einheit ist eines der Merkmale der ägyptischen Kultur, die sich in einzigartiger Kontinuität über mehr als drei Jahrtausende gewissermaßen aus sich selbst heraus entwickelt hat. Von menschlicher Evolution unter Laborbedingungen zu sprechen ist insofern durchaus berechtigt, als der Gang der ägyptischen Geschichte nur unwesentlich von Fremdfaktoren bestimmt ist und sich in einem wirtschaftlich weitgehend autarken, geopolitisch klar abgegrenzten Schutzraum ereignen konnte. Die kulturelle Vielfalt, die sich unter diesen Rahmenbedingungen entfaltet, erscheint dadurch zwar ohne Ansehen der jeweiligen Epoche generell vertraut, ist aber von Jahrhundert zu Jahrhundert, Jahrtausend zu Jahrtausend von immer neuer Kreativität.Die Bilderwelt der Gräber des Alten Reiches scheint sich bei flüchtiger Betrachtung in den Gräbern des Neuen Reiches zu wiederholen. Die tausend Jahre, die zwischen den Gräberfeldern bei den Pyramiden von Giseh, Abusir und Sakkara und den Friedhöfen in Theben-West liegen, haben jedoch die Architektur der Gräber und die Bildsprache und Stilistik ihrer Wandbilder ebenso stark verändert wie die religiösen Vorstellungen, die sich in diesen Grabanlagen manifestieren.Für das 3. Jahrtausend v. Chr. kann die Jenseitserwartung des Ägypters als eine idealisierte Fortführung des diesseitigen Lebens charakterisiert werden. Allein dem König ist mit seinem Tod eine grundlegende Verwandlung vorbehalten, der Eintritt in ein göttliches Jenseits inmitten der himmlischen Götter. Im Bildprogramm der Privatgräber des Alten Reiches fehlen Darstellungen von Göttern gänzlich. Szenen, die unmittelbar mit der Bestattung zu tun haben, sind ebenso selten wie Darstellungen, die ein über irdische Vorbilder hinausgehendes Jenseitsbild entwerfen. Den aus dem Leben gegriffenen Themen fehlt jedoch der wirklich historische Bezug; sie sind Idealbilder ohne Bezug zum Lebensweg des Verstorbenen. Lediglich in den Grabstatuen deutet sich auch für den nichtköniglichen Ägypter eine Wesensänderung auf dem Weg vom Diesseits ins Jenseits an; während die Stand-Schreit-Figurseine über den Tod hinaus fortbestehende physische Präsenz darstellt, ist die Sitzfigur ein Bild des thronenden verklärten Toten. Die Grabbilder des Neuen Reiches setzen an die Stelle eines diesseitsorientierten Jenseits die Vision einer sinnlich nicht erfahrbaren Welt, in die der Verstorbene eintreten kann, wenn materielle und ideelle Voraussetzungen erfüllt sind - ein Grab, ein funktionierender Totenkult und ein glücklicher Ausgang des Totengerichts.Die Architektur der Gräber des Alten Reiches entspricht dem diesseitsorientierten Jenseitsbild; sie sind die Wohnhäuser der Verstorbenen. Die freistehenden Mastaba-Gräber ahmen in ihrer Fassadengestaltung, ihrem säulengestützten Portikus, ihren Türen, Gängen und Zimmern die Bauweise der Lehmziegelarchitektur und die Wandverkleidung mit Teppichen und Matten nach. Die Organisation der Friedhöfe in regelmäßig angelegten Straßen reflektiert die Gliederung der Wohnsiedlungen, wie sie durch Grabungsbefunde nachgewiesen sind. Wenn durch die Geländestruktur bedingt Felsgräber angelegt werden, so übernehmen diese die formalen Elemente der freistehenden Mastaba.Die thebanischen Gräber des Neuen Reiches kennen nur den Typus des Felsgrabes. In die Felshänge des nach Westen ansteigenden Randgebirges von Theben sind Hofterrassen eingeschnitten; in der Mittelachse ihrer Rückwand, bisweilen überragt von einer kleinen, steilwandigen Pyramide, führt die Tür ins Grab, das sich im Inneren des Berges ebenerdig nach einem einheitlichen Grundplan entwickelt. Hinter der Tür liegt ein quer liegender Raum, die »breite Halle«; sie weitet sich in manchen Gräbern zu einem großen, säulengestützten Saal. In der Mittelachse folgt ein Längsraum, der in den Berg hineinführt; der Grabplan hat also die Form eines umgekehrten »T«. Als Zielpunkt des Längsraums, der »tiefen Halle«, ist in dessen Rückwand oft eine Statuennische eingelassen, aus der heraus der Verstorbene in Gestalt einer Sitz- oder Kniefigur mit einer Stele zum Grabeingang blickt, nach Osten und somit der aufgehenden Sonne entgegen.Vom Hof, manchmal auch von einem der Innenräume aus führt ein Schacht hinunter in die Sargkammer, in der inmitten reicher Beigaben der Verstorbene in einem bemalten Holzsarg, oft auch in mehreren ineinander geschachtelten Särgen oder in einem steinernen Sarkophag ruht. Dieser Teil des Grabes wurde nach Abschluss der Bestattung verschlossen und blieb unzugänglich; die breite und die tiefe Halle hingegen standen für den Vollzug des Totenkults und für die Nekropolenfeste offen. Nicht selten begegnet ein Grabtyp, dessen Sargkammer von der breiten Halle aus über eine schräg abwärts führende, gewundene Rampe begehbar ist - eine Entsprechung zu den Königsgräbern im nahe gelegenen Tal der Könige, die in ihrer Architektur ein Modell unterweltlicher Räume sind.Den Reliefs oder Malereien auf den Wänden der verschiedenen Raumeinheiten des thebanischen Grabes sind spezifische Bildthemen zugeordnet. Die breite Halle ist diesseitigen Themen vorbehalten. Sie entsprechen einerseits der Thematik der Grabbilder des Alten Reiches, wenn sie Szenen der Landwirtschaft, der Jagd und des Handwerks zeigen. Zum anderen aber weisen sie historische und biographische Bezüge auf, berichten aus der beruflichen Tätigkeit des Grabherrn und schildern herausragende Ereignisse seiner Lebenszeit wie zum Beispiel die Teilnahme am Regierungsjubiläum des Königs, eine Ordensverleihung oder den Empfang einer ausländischen Delegation. Der historische Wert dieser Bilder liegt in der minutiösen Darstellung der Tracht und der Tribute der Nachbarvölker Ägyptens, der Kreter, Syrer, Nubier und Libyer, die Gefäße aus Edelmetall, kostbare Hölzer, exotische Tiere, Elfenbein, Felle und Weihrauch mit sich führen - ein wahres Handbuch der Völkerkunde.Im vorderen Teil der tiefen Halle finden sich meist Darstellungen des Begräbnisrituals und der Totenfeste. Tod und Mumifizierung sind als Übergangsstadien zwischen Diesseits und Jenseits tabuisierte Themen, der ritualisierte Ablauf der Bestattung ist jedoch bereits der erste Schritt in jene neue Welt, in der sich der Verstorbene in der Gemeinschaft der Götter wieder finden wird. Nur in der Darstellung dieser Trauerzüge wagt es der ägyptische Künstler, Emotionen zu zeigen. Gesten und Mienenspiel der Trauergäste, insbesondere der Klageweiber, zeigen eine andernorts unbekannte Intensität des Gefühlsausdrucks. In krassem Gegensatz zu diesen Bildern der Trauer scheinen die vielfigurigen Szenen prunkvoller Feste zu stehen. Tänzerinnen, Musikanten, raffiniert geschminkte Damen und elegant gekleidete Herren vereinigen sich zu großen Festgesellschaften, die zum »schönen Fest im Wüstental« zusammenkommen, zu einem Totenfest, bei dem sich alljährlich Lebende und Verstorbene in der thebanischen Totenstadt zusammenfinden, um beim Mahl, beim Gelage und beim Tanz die Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits aufzuheben.Im rückwärtigen Teil der tiefen Halle finden sich schließlich Darstellungen der Götter des Jenseits - eine Vorwegnahme des Bildprogramms der tief unter diesen Räumen liegenden Sargkammer. Dort ist der Verstorbene inmitten einer neuen Welt bestattet. Im Festtagskleid zeigen ihn die Malereien der Wände, wie er vor den Totenrichter Osiris geführt wird, um sein Herz als Sitz seines Wesens gegen Maat, die göttliche Ordnung der Welt, aufwiegen zu lassen. Als verklärter, seliger Auferstandener sitzt er im Kreise seiner Familie oder versieht in heiterer Leichtigkeit die Arbeit auf paradiesischen Feldern. Die Himmelsgöttin Nut reicht ihm aus einer üppig grünenden Sykomore Speise und Trank, und der schakalköpfige Nekropolengott Anubis umsorgt den mumifizierten Leichnam, aus dem sich vogelgestaltig die Seele des Verstorbenen erhebt. Der umfangreiche Fundus von Motiven, aus dem für jede Sargkammer eine individuelle Auswahl und Zusammenstellung getroffen wird, findet sich auch in den skizzenhaften Vignetten der Totenbücher, die seit dem frühen Neuen Reich den Verstorbenen als Handreichung für den Weg in ein verwandeltes, ewiges Leben mit ins Grab gegeben werden.Als mit dem Ende des Neuen Reiches die große Tradition der thebanischen Grabmalerei nach fünfhundertjähriger Blüte abstirbt, lebt ihr religiöses und künstlerisches Erbe in den Totenbüchern und auf den bemalten Särgen weiter. Neben ihrer Aussagekraft für die altägyptische Glaubenswelt sind die Grabbilder in Theben ein unschätzbares Quellenmaterial für die Kunstgeschichte. Die stilistische Entwicklung spannt sich vom strengen Stil der frühen 18. Dynastie, der auf Vorbilder des Mittleren Reiches zurückgreift, zur impressionistischen Freiheit der Nachamarnazeit, und bisweilen lassen sich - ein seltener Fall in der Kunstgeschichte Ägyptens - die Hände einzelner Meister unterscheiden.Unerklärlich bleibt, weshalb die hohe Kunst der Malerei, die in Hunderten von Gräbern in der thebanischen Nekropole ihre thematische und stilistische Vielfalt ausbreitet, außerhalb Thebens in ganz Ägypten kaum Spuren hinterlassen hat. Die politisch und wirtschaftlich führenden Zentren der 19. und 20. Dynastie, Memphis und die Ramsesstadt, sind gegenüber Theben künstlerische Provinz. Thebens Stellung als geistliches und geistiges Zentrum Ägyptens, um 2000 v. Chr. mit der Gründung des Amuntempels geschaffen, blieb unbeeinflusst von politischen Wechselfällen der Nährboden der fruchtbarsten Künstlerkolonie Altägyptens.Prof. Dr. Dietrich Wildung
Universal-Lexikon. 2012.